Predigt 5.11.2023, 22. So. n. Trinitatis

St.Martin
Bildrechte Kandinsky

Matthäus 25,34-40 und St. Martin

35 Denn als ich hungrig war, 
habt ihr mir zu essen gegeben. 
Als ich Durst hatte, 
bekam ich von euch etwas zu trinken. 
Ich war ein Fremder bei euch, 
und ihr habt mich aufgenommen. 
36 Ich hatte nichts anzuziehen, 
und ihr habt mir Kleidung gegeben. 
Ich war krank, und ihr habt für mich gesorgt. 
Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‹ 
37 Dann werden sie, 
die nach Gottes Willen gelebt haben, fragen: 
›Herr, wann bist du denn hungrig gewesen, 
und wir haben dir zu essen gegeben? 
Oder durstig, und wir gaben dir zu trinken? 
38 Wann warst du als Fremder bei uns, 
und wir haben dir Gastfreundschaft gewährt? 
Und wann hattest du nichts anzuziehen, 
und wir haben dir Kleider gebracht? 3
9 Wann warst du denn krank oder im Gefängnis, und wir haben dich besucht?‹ 40 Der König wird ihnen dann antworten: ›Das will ich euch sagen: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder für eine meiner geringsten Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!‹


     Predigt zu St. Martin

Ein besonders wichtiger Mensch in meinem Leben 
war meine Tante Ursula.
Zu jedem Geburtstag bekam ich 
eine ganz persönlich geschriebene Karte.
Sie rief regelmäßig bei mir an
Und fragte nach, wie es mir und meiner Tochter geht.
Sie dachte an jedes wichtige Ereignis in meinem Leben:
Wie z.B. das Abitur oder der Führerschein.
Sie wusste von meinen nächsten Reisezielen
und versorgte mich mit der passenden Reiselektüre. 
Sie wünschte mir immer eine gute Reise 
und dass ich wieder gesund zurückkomme.
Sie ließ mich immer wissen:
Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da.
In Gedanken bin ich auch bei dir.
Du bist mir wichtig.
Auf meine Tante Ursula konnte ich mich immer verlassen.

Sie, liebe Gemeinde, haben eine Postkarte bekommen.
Die will ich jetzt mit Ihnen anschauen 
Ein gelbes Pferd bäumt sich auf. 
Der Reiter hält die Balance. 
Es sieht alles andere als leicht aus. 
Das Pferd schaut uns an. 
Unterhalb von seinem Kopf ist eine weiße Wolke. 
Darunter ein blaues Gebirge. 
Reiter und Pferd stehen auf einer grünen Wiese. 
Gekrümmt, ganz links am Bildrand, eine dunkle Figur. 
Ist es diese Figur, die das Pferd erschreckt hat? 
Ein bunter Baum darüber 
nimmt die Krümmung der Figur auf. 
Der Baum hat alle Farben des Bildes in sich. 
Überall wilde Striche und unruhige, flirrende Flächen. 
Sie sind eingefasst mit schwarzen Linien. 
Als könnte das die Unruhe des Bildes beruhigen. 
Energie, Kraft und Bewegung 
malt der Maler Wassily Kandinsky in dieses Bild. 
Es ist, als ob ihn die Begegnung 
zwischen dem Heiligen Martin und dem Bettler aufwühlt. 
Da ist jemand, 
dem ist das Schicksal des anderen nicht egal ist.
Es ist, als ob ihm das keine Ruhe lässt. 
Diese kurze Begegnung von zwei Menschen, 
die bis heute auf uns wirkt.
Weil das Teilen des Mantels eine so unglaubliche Geste ist. 
Und w
eil das ein Zeichen für uns ist,
wie wir leben und handeln sollen.
Weil es ein Zeichen dafür ist,
wie das Leben, ja, wie unser Leben gelingen kann.
Ich glaube: Miteinander Teilen ist eine Menschheitsaufgabe. 
Es sieht so einfach aus: 
Man muss nur den eigenen Mantel teilen 
und die Armut der Welt ist verschwunden. 
So einfach könnte es sein. 
So einfach ist das aber nicht. 
Aber was geht wirklich? 
Was ist machbar? 
Diese Geschichte vom St. Martin und dem armen Mann
ist so wunderschön, weil hier das Teilen gelingt. 
Deshalb erzählen wir sie jedes Jahr den Kindern
in der Schule und im Kindergarten.
Und darum erzähle ich sie Ihnen auch heute wieder.
Damit immer wieder irgendwo auf dieser Welt 
Gutes geschieht 
Und damit etwas besser wird. 
Und dass wir in Bewegung in kommen. 
Und wenn ich an die Kriege auf dieser Welt denke,
dann sind sie immer darum entstanden,
weil die Menschen nicht teilen wollen,
nicht das Land, nicht das Wasser, nicht die Lebensmittel, 
nicht das Öl, nicht das Gas, nicht die anderen Rohstoffe.
Dieses Bild auf der Postkarte zeigt ein Gegenbild:
Voller Farbe und Kraft hat der Maler Kandinsky 
uns die frohe Botschaft 
der Geschichte vom Heiligen Martin gemalt.
Die Botschaft heißt: Teilen kann gelingen. 
Und wir alle können ein Teil davon sein:
Als der, der etwas gibt. Oder als der, der etwas bekommt. 
So geht Leben teilen.

Zurück zu meiner Tante Ursula: 
Was genau war es eigentlich, 
was die Karten und Wünsche von ihr 
für mich so wertvoll gemacht haben?
Sie hat ein Stück Leben mit mir geteilt. 
Sie hat Anteil genommen. 
Sie war aus der Ferne da. 
Sie hat ihr Leben unterbrochen, 
um Karte und Stift in die Hand zu nehmen. 
Um sich vorzustellen, wie es mir geht. 
Was jetzt gut oder wichtig für mich sein kann. 
Und sie hat einen Gruß geschrieben. 
Das hat immer gut getan.
Das Leben miteinander teilen, 
das ist noch ein ganz anderer Gedanke 
in der Geschichte vom Heiligen Martin. 
Er hat für alle sichtbar seinen Mantel geteilt. 
Aber es war nicht nur der Mantel. 
Er hat auch ein Stück von sich gegeben. 
So gesehen hat er ein Stück Leben mit dem Bettler geteilt. 
Das hat alle berührt, die es gesehen haben. 
Und es berührt uns bis heute.

Irgendwann danach ist dem St. Martin Jesus erschienen.
In der Nacht, in einem Traum. 
Ich stelle mir das so vor:
Eine Stimme. Und ein offenes, hörendes Ohr. 
Eine berührende Begegnung mit Worten. 
Es ist für Martin so, als ob Jesus zu ihm spricht: 
Martin, du hast geteilt. Ich habe auch geteilt. 
Du hast deinen Mantel geteilt. Mit einem Bettler. 
Ich habe mein Leben geteilt. Mit den Menschen. 
So könnte Jesus gesprochen haben: 
Ich bin durch das Leben gegangen
mit allen Höhen und Tiefen. 
An der Seite der Menschen. 
Am Ende bin ich durch den Tod in die Ewigkeit gegangen. 
Teilen hat etwas von Ewigkeit. 
Ich will mit dir, Martin, 
und ich will mit den Menschen diese Ewigkeit teilen, 
Ich bin schon einmal vorgegangen, Martin. 
Komm du einfach nach. Ich bin da! 
Und warte auf dich. Kommst du?

So könnte es gewesen sein, 
die Begegnung von Jesus und Martin im Traum. 
Was man weiß, ist, dass Martin Christ geworden ist. 
Dass aus dem Ritter Martin der St. Martin wurde. 
Dass er Bischof geworden ist. 
Und die Kinder warten, dass am 11.11. jedes Jahr wieder der St. Martin kommt. 
Und dass ihnen dann jemand die Geschichte erzählt, 
wie St. Martin seinen Mantel geteilt hat. 
Und wie ein Bettler glücklich geworden ist. 
Und dann teilen die Kinder untereinander 
ihre Martinsbrötchen
und üben so ein, wie Leben teilen geht,
und dass das miteinander teilen gar nicht so schwer ist,
und dass es wirklich wahr ist, 
dass Teilen glücklich machen kann, 
mich selbst, und den anderen, mit dem ich teile,
und etwas mit der Ewigkeit zu tun hat. 
Und wir hier in St. Johannes üben das auch,
immer am ersten Sonntag im Monat,
also auch heute,
wenn wir Brot und Wein miteinander teilen.  Amen.